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Gottfried Lochers undurchsichtiger Fall

Frauen werfen dem obersten Reformierten «Grenzverletzungen» vor. Hinter dem Abgang des profilierten Berner Pfarrers stehen aber auch innerkirchliche Kämpfe.

Der Mann des Anstosses ist weg. Gottfried Locher (53), profilierter Pfarrer aus Bern und Präsident der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz (EKS), hat Ende Mai seinen Abgang erklärt. Der oberste Reformierte des Landes warf das Handtuch laut Medienberichten nach dem delikaten Vorwurf, «Grenzverletzungen» gegenüber Frauen begangen zu haben. Mit Lochers Rücktritt ist die Affäre allerdings noch nicht ausgestanden. Nur schon, weil die Kritiken diffus bleiben. Mehr noch: Lochers Verteidiger vermuten eine Kampagne. Sie glauben, dass es in der Affäre nicht allein um dessen Umgang mit Frauen, sondern um einen innerkirchlichen Richtungskampf geht. Die Vorwürfe über Lochers angeblich frauenverachtendes Verhalten seien von seinen Gegnern genutzt worden, um ihn aus dem Amt zu drängen. Dem Exekutivrat der EKS wäre es womöglich recht, nach Lochers Abgang über die verworrene Sache und damit auch über ihr mangelhaftes Krisenmanagement Gras wachsen zu lassen. Am Montag, 15. Juni, muss die Synode, das Parlament der EKS, aber eine Interpellation der grossen reformierten Kantonalkirchen Bern, Aargau, Waadt und Zürich zur Sache behandeln. Diese fordern, dass eine Untersuchungskommission eingesetzt werde, die Licht ins Dunkel der Affäre bringen soll. Locher selbst will sich zum Schutz seiner Person und der Familie nicht äussern.

Lochers grosse Fallhöhe

Kirchenthemen machen sonst kaum Schlagzeilen. Der Absturz des auffälligen Berner Kirchenmanns aber erregt Aufmerksamkeit. Der eloquente Theologe hatte der reformierten Kirche in den letzten Jahren ein Gesicht und eine Stimme gegeben. Um klare Worte ist er nicht verlegen – auch über den schnell fortschreitenden Mitglieder- und Bedeutungsverlust der Landeskirche. Er wollte die Kirchenführung stärken, was ihm den Vorwurf eintrug, er strebe nach einem reformierten Bischofsamt. Locher traf als Verfechter einer überkonfessionellen Ökumene den Papst und verkehrte auch im Bundeshaus, mit einem Badge von CVP-Präsident Gerhard Pfister. Zuletzt erregte Locher Aufsehen, als er sich offen für die Ehe für alle aussprach. Jetzt soll sich diese auffällige Figur selber abgeschossen haben – mit seinem Verhalten gegenüber Frauen. Die «NZZ am Sonntag» berichtete etwa von Beziehungen ausserhalb seiner Ehe. Immerhin gestehen die Medien Locher zu, dass für ihn vorerst die Unschuldsvermutung gelte. Der Begriff klingt nur scheinbar rücksichtsvoll. Man verwendet ihn, wenn jemand angeklagt, aber noch nicht verurteilt ist. Weder das eine noch das andere ist bei Locher der Fall. Es gibt keine Strafanzeige, kein Verfahren und keine konkretisierten Vorwürfe. In der Affäre bleibt eine zentrale Frage offen: Was muss sich Locher wirklich vorwerfen lassen?

Unscharfer Begriff «Grenzverletzung»

Seinen Abgang ausgelöst hat der Beschwerdebrief, in dem eine frühere Mitarbeiterin Lochers dem Präsidenten «Grenzverletzungen» vorwirft. Darin geht es um Vorfälle von 2011. Publik wurde die Sache, weil Sabine Brändlin, ein Mitglied des EKS-Rats, zurücktrat. Die Pfarrerin war für Grenzverletzungen und damit für die Beschwerde zuständig. In einem Communiqué sprach die EKS bloss wolkig von «unüberbrückbaren Differenzen» zwischen Brändlin und dem Rat. Sie kündigte eine Untersuchung an, deren Ergebnisse allerdings erst im Sommer 2021 vorliegen sollten. Mitte Mai reagierten 12 Theologinnen und Theologen mit einem offenen Brief an die EKS-Gremien. Sie forderten eine schnelle Aufklärung – und zwar durch eine unabhängige, ausserkirchliche Instanz. Gleichzeitig übernahmen sie aber die diffusen Vorwürfe in ihrem Schreiben. Gleich sechsmal enthält es den Begriff «Grenzverletzung» und erhebt ihn so zu einer Art Generalvorwurf. Lochers Name wird im Brief nicht genannt, es ist aber von einer «allfälligen Täterschaft aus den eigenen Reihen» der EKS die Rede.

«Grenzverletzung» ist ein weiter Begriff, der der Präzisierung bedarf. Strafbar werden Grenzverletzungen erst in Form einer tätlichen oder groben verbalen Belästigung sowie einer sexuellen Nötigung. Das subjektive Empfinden einer Frau genügt noch nicht als Beleg für ein strafbares Verhalten eines Mannes. Auch die Veröffentlichung intimer Details aus Lochers Privatleben könnte überdies eine Grenzverletzung sein. Unternehmen oder Institutionen können allerdings ihre eigenen roten Linien ziehen. So gilt etwa in der Kirche eine Nulltoleranz gegenüber sexuellen Grenzverletzungen. Schon ein ungebührliches Verhalten, das noch nicht strafbar ist, könnte also einen Abgang begründen. Von den zwölf Personen, die den offenen Brief unterzeichnet haben, sind einige schon vorher als Locher-Kritikerinnen aufgefallen. Etwa die Zürcher Pfarrerin Rita Famos, die 2018 gegen ihn als Kampfkandidatin bei der Präsidiumswahl antrat und dabei unterlag. Damals waren im Rahmen der #MeToo-Debatte erstmals meist anonyme Vorwürfe an Locher publik geworden. Offen bezichtigt wurde er von Mitunterzeichnerin Carla Maurer, Pfarrerin der Swiss Church in London und dort Nachfolgerin Lochers. Sie bestätigte auch gegenüber dieser Zeitung, dass Locher sie in ein unangenehmes Gespräch über die aggressive männliche Sexualiät verwickelt habe.

Gehör auch für Locher?

Im Mai gelangten zudem sieben Frauen an Leitungspersonen von Kantonalkirchen und äusserten weitere Vorwürfe gegen Locher. Christoph Weber-Berg, Kirchenratspräsident der reformierten Kirche Aargau, bestätigt auf Anfrage, er kenne die Frauen mit Namen und habe Gespräche mit ihnen geführt. «Sie haben uns von psychischen und sexuellen Grenzverletzungen Lochers berichtet», sagt Weber-Berg. Mehr sagt er nicht über die Frauen und ihre Kritik. Die Frage, ob einige von ihnen identisch seien mit den Autorinnen des offenen Briefs und ob sich Vorwürfe von 2018 wiederholen, beantwortet Weber-Berg nicht. Er erklärt, die Frauen würden sich bedeckt halten, weil sie sich «weder öffentlichen noch juristischen Pressionen aussetzen» wollten. Ihre Erlebnisse gehörten höchstens in das Protokoll einer Untersuchungsbehörde, nicht aber an die Öffentlichkeit. «Wenn man solche Erfahrungen öffentlich diskutiert, sei die Gefahr gross, dass man sich neuen Verletzungen aussetzt», sagt Weber-Berg.

Das würde allerdings auch für Gottfried Locher gelten. Wurde er über den Inhalt der Beschwerde informiert und gewährte man ihm zu den Vorwürfen rechtliches Gehör? Ja, sagt die EKS-Medienstelle auf Anfrage. In der SRF-Rundschau erklärte EKS-Vizepräsidentin Esther Gaillard am Mittwochabend gar, Locher sei gleich mit einer Anwältin aufmarschiert und habe versucht, die Sache mit der Beschwerdeführerin im Gespräch zu erklären und unter den Teppich zu kehren. Am Donnerstag, 11. Juni, aber stellte die «Weltwoche» den Ablauf anders dar. Sie schreibt, Locher sei am Ostermontag an einer Videositzung erstmals über die Beschwerde informiert worden. Zugeschaltet seien auch Anwälte und PR-Berater der EKS gewesen. Locher habe dann versucht, mit seiner Anwältin die Vorwürfe zu klären. Was er zu seiner Verteidigung vorbrachte und ob man ihn am Ostermontag gleich zum Rücktritt bewegen wollte, will die EKS vor der Synode vom Montag nicht sagen. Bevor Locher vorverurteilt wird, müssen die Anwürfe nun untersucht werden, wie es die Kantonalkirchen mit ihrer Interpellation verlangen.

Im Zentrum innerkirchlicher Fehde

In der undurchsichtigen Affäre, die eine mediale Kontroverse ausgelöst hat, bleibt noch eine zweite Fragen offen: Geht es bei Lochers Sturz allein um seinen Umgang mit Frauen? Jüngst stand er auch im Zentrum innerkirchlicher Debatten über die neue Verfassung der EKS und die Ehe für alle. In der komplexen Affäre Locher geht es nach Kennern, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen wollen, «nicht bloss um eine moralische, sondern auch um eine dogmatische Debatte». Mit dem Hebel intimer Vorwürfe könnten ihn Gegner aus dem Amt gedrängt haben. 2018 kam im zweiten Anlauf die neue Verfassung durch, die aus dem vorher losen Kirchenbund die reformierte Nationalkirche EKS machte. Ein erster Entwurf, der ein bischofsähnliches Präsidium vorgesehen hätte, wurde von den in der EKS-Synode vertretenen Kantonalkirchen verworfen. Für Locher waren eine nationale Bündelung der kirchlichen Kräfte und eine Stärkung des Präsidenten ein zentrales Mittel gegen den Bedeutungsverlust der Kirche. Im Verfassungsprozess war er zweifellos eine treibende Kraft. Hört man sich bei den Kantonalkirchen um, wollen alle schon immer für die neue Verfassung gewesen sein. Bis zuletzt haben sie sie aber zurückgestutzt.

Ist Locher den Kantonalkirchen zu stark geworden? «Das ist eine abwegige These», widerspricht der Berner Synodalratspräsident Andreas Zeller. Es gehe in der neuen EKS-Verfassung gar nicht um eine nationale Kirche, sondern eine nationale Gemeinschaft. Und Locher sei zwar der Koordinator der Verfassung, aber nicht deren Macher gewesen. Dennoch: In der Auseinandersetzung um die neue Verfassung standen sich der Spitzenmann der nationalen Kirche und die Präsidenten die grossen, finanziell gut gestellten Kantonalkirchen gegenüber. Es ging auch um die Deutungshoheit in der reformierten Kirche. Eine lose kirchliche Allianz von liberalen Theologen sowie Engagierten aus der Umwelt-, der Drittwelt- und der Frauenbewegung verfechten einen individuellen Glauben und eine föderale Kirche der kleinen Gemeinschaften. Sie halten Lochers Einsatz für eine starke Kirchenführung und seine Nähe zur katholischen Kirche für autoritätsfreundlich.


Locher zwischen allen Fronten

Der traditionsbewusste Theologe und Familienvater Locher verlor aber auch bei konservativen Kreisen der Kirche Kredit, als er im letzten August nach zähen Debatten in den EKS-Gremien auf einmal öffentlich die Ehe für alle, also auch für homosexuelle Paare, befürwortete. «Diese Positionierung sicherte ihm zwar den Applaus der Liberalen, sie liebten ihn aber deshalb noch nicht», beschreibt ein Kenner Lochers Lage zwischen allen Fronten. Leute, die ihm begegneten, erklären, Locher ecke bei allen Lagern an. Seine pointierten Äusserungen würden auf viele Zuhörer provokativ wirken. Am Anfang von Lochers Laufbahn tönte es noch ganz anders. Als Locher 2010 zum Präsidenten des nationalen Kirchenbunds gewählt wurde, galt er als Hoffnungsträger. Der weltläufige Mann hatte in London dissertiert, machte dort einen Master of Business Administration und war exzellent vernetzt in der internationalen Ökumene-Bewegung. Eine seiner ersten Amtshandlungen war es, das grosse Büro seines Vorgängers in einen Andachtsraum umzuwandeln, er selber beschränkte sich auf ein mobiles Büro. Das kam gut an. Der jugendlich wirkende, smarte Kommunikator verschaffte der Kirche mit pointierten Aussagen wieder ein wenig Glanz. Heute finden Kritiker, sie hätten sich von Locher blenden lassen, er habe sie enttäuscht. Der Berner Synodalratspräsident Andreas Zeller sagt, Locher habe sich «anders entwickelt als erwartet». Er war es, der den damals jungen, von aussen kommenden Pfarrer als Kandidat für das nationale Präsidium aufstellte. «Er war eloquent, telegen, mehrsprachig, gab der Kirche ein Gesicht», erinnert sich Zeller. Nun sagt er: «Es ist mir etwas unangenehm, dass ich ihn damals vorschlug, hätte ich damals von den heutigen Vorwürfen gewusst, hätte ich das nicht getan.» Lochers Ruf sei schon seit 2018 angeschlagen, seither hätten sie nur noch selten miteinander gesprochen.

Vom Glanzvollen zum Blender

Was an Locher geschätzt wurde, wirft man ihm nun vor. Erst lobte man ihn als talentierten Kommunikator, nun kritisiert man ihn als Provokateur. Der Mann, der der Kirche Gesicht und Stimme gab, galt auf einmal als machthungriger Möchtegern-Bischof. Der Glanzvolle ist nun ein Blender. Locher trug auch selber zu dieser Umwertung bei. Die Kritik kam aber auch von Exponenten, denen der aufsteigende Locher vor der Sonne stand. Während Kritiker ihren Namen nicht nennen wollen, verteidigen ihn andere mit Namen. Etwa die katholische Theologieprofessorin Barbara Hallensleben von der Universität Freiburg. Sie schätzt ihn als kompetenten Theologen, als Mitglied und Lehrbeauftragten im Institut für Ökumenische Studien, als Partner der Schweizer Bischofskonferenz, als Initiator eines europaweiten katholisch-protestantischen Dialogs. «Er steht für eine Aufgabe, man kann gut mit ihm arbeiten und auch streiten. Ich empfinde sein Auftreten als hilfreiche Provokation», sagt sie. Es gehöre zu einem hohen Leitungsposten, dass man anecke, Locher sei es aber gelungen, «die Kirche trotz grosser Spannungen auf einem gemeinsamen Weg zu halten». Zu den jüngsten Vorwürfen erklärt Hallensleben: «Locher ist ohne transparente Zeugnisse, ohne Anhörung und mit gezielter Intransparenz aus dem Amt entfernt worden.»

Die Verteidiger sehen Locher als Opfer einer innerkirchlichen Kampagne, die Kritiker und Kritikerinnen als Frauenverächter und Gefahr für eine demokratische Kirche. Es könnte sein, dass er ein Mann im falschen Film ist. Sein bisweilen direkter Ton, etwa gegenüber Frauen, vertrug sich schlecht mit einem öffentlichen Spitzenamt. In einer moralischen und politisch korrekten Institution wie der Kirche machte er sich damit erst recht angreifbar.

Quelle: www.thunertagblatt.ch, Stefan von Bergen, 14.06.2020